Mittwoch, 25. Januar 2012

"Wir haben ja nichts Anderes gekannt" - Die Geschichte einer braunen BDM-Jacke und ihrer Trägerin

Sie war beim BDM. Jeder in der Familie weiß es, aber niemand kann es verstehen. Alle kennen  die braune, hübsch gearbeitete und für die ärmlichen Verhältnisse nach dem Krieg sehr exklusive BDM-Jacke. Irgendjemand ließ sie umnähen und dann hat die geliebte Großnichte sie getragen, für die sie, selbst kinderlos, wie eine Mutter war.

Sie, das ist die 1924 geborene und heute 87-jährige Franziska S., die seit ihrer Mädchenzeit von allen „Fanni“ genannt wird. In der Familie ist sie einfach  nur die „Godi“ (Taufpatin der Großmutter, Schwester der Urgroßmutter), die gute Seele, die immer da ist, wenn man sie braucht, sich um die Kinder  gekümmert hat, als wären es ihre Enkel und trotz ihres eigenen stolzen Alters eine symbiotische Lebensgemeinschaft mit einem 100-jährigen Mann führt. Ob man es Liebe oder Freundschaft nennen will, ist völlig egal, denn sie brauchen einander und es schützt sie beide vor der Einsamkeit des Alterns, die unweigerlich von einem Besitz zu ergreifen droht, wenn man der Reihe nach alle Freunde, Verwandten und Schulkollegen zum Grab begleitet.

Von der Zeit, in der Fanni die BDM-Jacke getragen hat, will aber niemand der Verwandten mit ihr sprechen. Jeder hat insgeheim Angst, dass er Seiten an ihrer „Godi“ entdeckt, die er nie finden wollte. Dass die Nazi-Ideologie vielleicht auch ihre Ideologie war. Dass sie freiwillig dazu gegangen ist  und sich dadurch mitschuldig gemacht hat. Dass esso etwas wie Schuld in der eigenen Familie gibt. Und außerdem schweigt man über die Nazizeit lieber. Die Generation, die sie miterlebt hat, tat es, tut es noch immer und wir beteuern zwar ständig, eine aufgeklärte Generation zu sein, aber tun es auch - schweigen.

Fanni scheint kein Problem damit zu haben, über diese tabuisierte Zeit zu reden. Sie eilt geschäftig in ihrer Wohnung in einem 800-Seelen Kaff im Innviertel umher, auf der Suche nach Fotos ihrer Jugend.
Der Pfarrerwald sei plötzlich feuerrot gewesen in dieser Nacht, beginnt sie zu erzählen. Die Leute hätten damals gemeint, dass dieses geheimnisvolle, nachterhellende Leuchten ein Nordlicht sei, das Schlechtes bedeute. Und daraufhin sei der zweite Weltkrieg ausgebrochen. Fanni war damals, 1938, 14 Jahre alt und besuchte in Vöcklabruck im Mutterhaus die Hauptschule.
Weil sie Lehrerin werden wollte ging sie anschließend nach Salzburg in eine Lehrerbildungsanstalt, wurde von den Nazis nach Jugoslawien versetzt und kehrte erst zu Kriegsende wieder in das heimatliche Innviertel zurück.
Ein Hitlermädchen war sie, beim BDM, da hat man dazu gehen müssen, da hat man keine Wahl gehabt, erklärt sie, ohne dazu aufgefordert zu werden.
Die Helene, eine Klassenkameradin, die war schon länger bei den Nazis. Als Fannis Vater dann eines Tages zu seinem wöchentlichen Besuch in die Schule kam erklärte ihm die Schulschwester, dass seine kleine Fanni jetzt auch beim BDM sei.
„Ich hab ja nicht mal gewusst was das ist, als ich so ein Dirndl war“ fügt sie an und man hört noch immer das naive Mädchen aus ihr sprechen, das von den politischen Vorgängen nicht viel mitbekommen hat, aber brav ihre Pflicht getan hat.

Die Frage nach einer Mitschuld ihrerseits verwundert sie ebenso wie das Unverständnis folgender Generationen. „Ich habe keine Schuld gehabt. Wir waren einfach bei der HJ, wir haben damals nichts Anderes gekannt. Heutzutage sagen sie ´warum seids so dumm gewesen?´ Da bist weg gewesen dann. Das sagt sich leicht ´Warum habt ihr das getan?´“                                        

Viele Erinnerungen sind schon schwach, Einzelereignisse dominieren vor chronologischen Abläufen und Jahreszahlen weiß sie so gut wie keine mehr. Aber Fanni hat den Nationalsozialismus miterlebt. Sie hat miterlebt wie Bomben gefallen sind, Menschen ihr Leben, ihre Gliedmaßen, Angehörige und Existenzen verloren haben, wo sie als Lehrerin gearbeitet hat waren Leichen aufgebart. Sie war beim BDM und niemand hat sie jemals nach den Gründen dafür gefragt. Das erzählen zu können, woran sie sich noch erinnert, war nicht nur für sie befreiend.