Donnerstag, 5. Juli 2012

Die Faszination des Bösen - Der ungelöste Mordfall Martina Posch als Mysterium


Vor 26 Jahren verschwindet in Vöcklabruck, Oberösterreich, die 17-jährige Martina Posch spurlos, 10 Tage später wird ihre Leiche im Mondsee gefunden, sie weist Spuren eines Sexualverbrechens auf. Daraufhin beginnt eine der größten Ermittlungsaktionen des Landes, mehr als 2000 Personen werden befragt, aber der Täter wird nie gefunden. Trotzdem ist der Fall 26 Jahre später noch immer im Gespräch, die Bevölkerung stellt noch immer Mutmaßungen an, Kindern und Enkelkindern wird die Geschichte weitererzählt, Bücher erscheinen, neue Theorien tauchen auf und Zeitungen berichten über angebliche Versäumnisse in der Vergangenheit genauso wie über Parallelen zu heutigen Fällen. In den Köpfen der Menschen lebt der ungelöste Mordfall Martina Posch als Mysterium weiter.

Die Vögel zwitschern, es ist ein warmer Frühsommertag und nur das vereinzelte Geräusch schlurfender Schritte auf dem Kiesboden stört die Stille. Ein friedlicher Ort. Immergrüner Efeu und ein Buchsbäumchen wuchern schon jahrelang ungestört vor sich hin, dazwischen hat irgendjemand in letzter Zeit ein paar Blümchen gepflanzt, unzerstörbare. Die rote Kerze in der traditionellen schmiedeeisernen Laterne ist schon lange nicht mehr angezündet worden. Hässliche rosarote, von Wind und Wetter stark mitgenommene Kunstblumen zieren eine ebenso massive Vase. Auf dem Grabstein stehen die Namen eines Ehepaares, das nach einigen gemeinsamen Jahren aus unbekannten Gründen hintereinander verstorben ist. Darunter ein anderer Name, der Name eines Mädchens, ihrer Enkelin, das nur 17 Jahre alt wurde: Martina Posch starb 1986 infolge eines Gewaltverbrechens, der Täter ist bis heute unbekannt.

Am 12. November 1986 verlässt Martina in Vöcklabruck/OÖ das Haus ihrer Mutter, um wie gewohnt mit dem Bus zur Arbeit zu fahren, sie ist Lehrling in einem Betrieb im benachbarten Attnang-Puchheim. Dort kommt sie nie an. Nachdem sie um 6.40 aus dem Haus gegangen war, hat sie nie wieder jemand lebend gesehen - außer ihrem Mörder. Der Freund Herbert B. und die Mutter des Mädchens starten in den Abendstunden, als klar ist, dass Martina nicht in der Arbeit erschienen war, eine großangelegte Suchaktion, die Gendarmerie wird eingeschaltet. 10 Tage nach ihrem Verschwinden finden Taucher im Mondsee die halbnackte Leiche des Mädchens, in Planen gehüllt. Die Tote fällt ihnen geradezu in die Arme, war sie doch an der seichtesten Stelle des Sees versenkt worden. Alles deutet darauf hin, dass sie einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen ist. Gesicherte Spuren weisen außerdem auf einen kühlen Zwischenlagerungsort hin, Reste von Saatkörnern, Getreide, stützen die Theorie, dass es sich um eine Scheune handeln könnte. Außerdem ergibt die Untersuchung der Leiche, dass sie spätestens zwei Stunden nach Verlassen des Elternhauses durch Erwürgen getötet worden sei.

Von diesen Fakten kann man auch heute noch mit Sicherheit ausgehen, aber was in der Zeit vom 12. November, 6.40, bis zum 22. November passiert ist, darüber gibt es wilde Theorien, viele Mutmaßungen, aber schließlich eine große Ahnungslosigkeit, verbunden mit der Hoffnungslosigkeit, dass der Täter in Ruhe alt werden wird, stirbt, ohne je für seine Tat belangt worden zu sein.

In regelmäßigen Abständen berichten Boulevardblätter wie die Kronen Zeitung wieder über den Fall, decken angebliche Versäumnisse auf und schüren den Glauben an eine Lösung des Falls. Es wird angeprangert, dass die zwei Planen, in die das Opfer gewickelt war, verschwunden sind, ebenso kehrte ihr Pullover nie aus dem Studio von Aktenzeichen XY zurück. Angeblich erhielt das Landesgericht Wels nur einen Teil des Aktenordners, den die Gendarmerie im Fall Martina Posch angelegt hatte. 2008, als der Amstettener Inzestfall rund um Josef Fritzl bekannt wurde, geriet der Fall Martina Posch wieder ins Interesse der Medien und der Bevölkerung, weil die Fritzels zum Zeitpunkt der Tat am Mondsee eine Pension betrieben hatten. Der Verdacht wurde geprüft, aber genau wie den zahlreichen Verdächtigen vorher, konnte man Josef Fritzl keine Verbindung zu dem Mädchen nachweisen.

Die tatsächlichen Ermittlungsarbeiten von Manfred Schmidbauer, leitender Kriminalist im Fall Martina Posch und jetzt Landesgendarmeriekommandant a. D., begannen mit 10 Tagen Verspätung, 10 Tage, die wie ein Geschenk für den Mörder waren. Vorher konzentrierten sich die
Ermittlungen aufgrund falscher Hinweise darauf, dass Martina entführt worden, oder einfach von zu Hause ausgerissen ist, was man in ihrem Alter nicht für unwahrscheinlich hielt.

Über 2000 Personen wurden befragt, Anrainer, Freunde, Bekannte, Angehörige und auch Pendler, die die Bushaltestelle passiert hatten, wurden als Zeugen vernommen. Noch nie war in Oberösterreich großflächiger ermittelt worden. Schon bald begann man aber den Kreis der Verdächtigen sehr eng zu ziehen, der Täter wurde im Umfeld des Opfers angenommen, jedoch ohne Ergebnis. Norbert Blaichinger, Journalist und Autor des Buches „Mysteriöse Kriminalfälle aus Österreich“ mutmaßt, dass diese frühe Fokussierung das Glück des Mörders gewesen sein könnte. Er befasst sich in diesem Buch eingehend mit diesem Fall. Aus Interesse, weil der Fall so Nahe bei ihm passiert sei und weil es dabei um ein junges Mädchen geht, begann er sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und beschäftigt sich noch immer damit. Seiner Theorie zufolge hatte sich Martina mit einem Unbekannten verabredet, der sie eventuell schon vorher öfters zur Arbeit gebracht hatte, was fehlende Busabrechnungen belegen würden. Der Unbekannte wurde dann zudringlich, Martina wehrte sich und wurde im Affekt erwürgt. „Wenn die Polizei aber der Theorie, die ich ihnen jetzt geliefert habe, nicht nachgeht, dann ist es für mich zu Ende. Dann sehe ich keine Chance mehr, noch weiter zu agieren.“ Eigentlich hält Norbert Blaichinger den Fall noch für lösbar.

Auch Manfred Schmidbauer, der damals, wie schon erwähnt, leitender Ermittler war und als Oberösterreichs erfolgreichster Kriminalist bezeichnet wird, lässt der Fall noch 26 Jahre danach nicht los. 179 Fälle konnte er in seiner erfolgreichen Karriere aufklären aber einer, der Fall Martina Posch, blieb ungelöst und beschäftigt ihn noch jetzt, in seiner Pension. Manfred Schmidbauer hat sich auch an Norbert Blaichingers Buch beteiligt und ist mit ihm die von verschiedenen Seiten aufgestellten Theorien durchgegangen. „Einige sind wenig wahrscheinlich, aber sie müssen gestellt werden, um objektiv und neutral zu bleiben.“ Außerdem erhofft sich der Kriminalist a.D., dass der Täter durch solche Bücher und auch dadurch, dass der Fall nicht in Vergessenheit gerät, verunsichert wird und einen Fehler begeht.

Psychologen gehen davon aus, dass das größte Problem an einem ungelösten Mordfall die fehlende Klarheit ist. Wenn ich mich nicht mit den Tatsachen auseinandersetzen kann, dann beginnt das Gedankenkreisen und die Fantasien darüber, was gewesen sein könnte, sind noch grausamer als die Realität. Andererseits sind Emotionen wie Zorn, Wut und Aggression nicht zielgerichtet, wenn der Täter, auf den ich sie richten kann, fehlt. Somit richtet sich die Wut ersatzweise gegen die Welt an sich und es kommt zu einem Welthass, oder gegen einen selbst, was über heftige Schuldgefühle bis zum Selbstmord führen kann. Auf der Täterseite spielt der in der Psychologie essentielle Begriff der Verdrängung die entscheidende Rolle. Um halbwegs integriert mit der Schuld Leben zu können, muss der Täter die Tat verdrängen, was bis zur Abspaltung führen kann, sodass er sich nicht mehr als Täter sieht. Psychoanalytiker sehen die große Ungerechtigkeit darin, dass Mörder sogar sehr viel besser mit ihren Taten leben können, als alle anderen Beteiligten.

So wie Verdrängung immer etwas mit Angst zu tun hat, ein Schutzmechanismus gegen die Angst ist, so ist sie auch ein Grund für das Interesse der Bevölkerung an einem ungelösten Mordfall. Ein solches Ereignis stellt eine Bedrohung dar, gerade wenn es räumlich sehr nahe passiert ist, und ist zugleich mit einem ähnlich großen Maß an Emotion verbunden wie etwa eine Fürstenhochzeit. Schmerz und Freude als Extreme sind eine willkommene Abwechslung im großteils monotonen Alltag des Menschen, lautet der Befund der Psychologie.

Auch die Kriminalistik legt einen ungelösten Mordfall nicht einfach ab und erklärt ihn für beendet. Er wird zu einer sogenannten Cold Case Ermittlung, zu Deutsch einem Verfahren der Schwerkriminalität, wie man es aus amerikanischen Filmen und Serien kennt. Obwohl keine verwertbaren Spuren mehr vorhanden sind, wird der Akt Martina Posch in regelmäßigen Abständen von Spezialisten wie Kriminalisten, Analysten und Psychologen auf neue Erkenntnisse hin bearbeitet.

„Auch wenn ich weiß, dass es sehr unwahrscheinlich ist, den Täter noch zu überführen, gebe ich die Hoffnung nicht auf“ betont Manfred Schmidbauer. Auf die Frage, was ihn am Fall Martina Posch am meisten beschäftige, antwortet er: „Der Umstand, dass ich mir sicher bin, mit dem Täter bereits gesprochen zu haben.“


Mittwoch, 25. Januar 2012

"Wir haben ja nichts Anderes gekannt" - Die Geschichte einer braunen BDM-Jacke und ihrer Trägerin

Sie war beim BDM. Jeder in der Familie weiß es, aber niemand kann es verstehen. Alle kennen  die braune, hübsch gearbeitete und für die ärmlichen Verhältnisse nach dem Krieg sehr exklusive BDM-Jacke. Irgendjemand ließ sie umnähen und dann hat die geliebte Großnichte sie getragen, für die sie, selbst kinderlos, wie eine Mutter war.

Sie, das ist die 1924 geborene und heute 87-jährige Franziska S., die seit ihrer Mädchenzeit von allen „Fanni“ genannt wird. In der Familie ist sie einfach  nur die „Godi“ (Taufpatin der Großmutter, Schwester der Urgroßmutter), die gute Seele, die immer da ist, wenn man sie braucht, sich um die Kinder  gekümmert hat, als wären es ihre Enkel und trotz ihres eigenen stolzen Alters eine symbiotische Lebensgemeinschaft mit einem 100-jährigen Mann führt. Ob man es Liebe oder Freundschaft nennen will, ist völlig egal, denn sie brauchen einander und es schützt sie beide vor der Einsamkeit des Alterns, die unweigerlich von einem Besitz zu ergreifen droht, wenn man der Reihe nach alle Freunde, Verwandten und Schulkollegen zum Grab begleitet.

Von der Zeit, in der Fanni die BDM-Jacke getragen hat, will aber niemand der Verwandten mit ihr sprechen. Jeder hat insgeheim Angst, dass er Seiten an ihrer „Godi“ entdeckt, die er nie finden wollte. Dass die Nazi-Ideologie vielleicht auch ihre Ideologie war. Dass sie freiwillig dazu gegangen ist  und sich dadurch mitschuldig gemacht hat. Dass esso etwas wie Schuld in der eigenen Familie gibt. Und außerdem schweigt man über die Nazizeit lieber. Die Generation, die sie miterlebt hat, tat es, tut es noch immer und wir beteuern zwar ständig, eine aufgeklärte Generation zu sein, aber tun es auch - schweigen.

Fanni scheint kein Problem damit zu haben, über diese tabuisierte Zeit zu reden. Sie eilt geschäftig in ihrer Wohnung in einem 800-Seelen Kaff im Innviertel umher, auf der Suche nach Fotos ihrer Jugend.
Der Pfarrerwald sei plötzlich feuerrot gewesen in dieser Nacht, beginnt sie zu erzählen. Die Leute hätten damals gemeint, dass dieses geheimnisvolle, nachterhellende Leuchten ein Nordlicht sei, das Schlechtes bedeute. Und daraufhin sei der zweite Weltkrieg ausgebrochen. Fanni war damals, 1938, 14 Jahre alt und besuchte in Vöcklabruck im Mutterhaus die Hauptschule.
Weil sie Lehrerin werden wollte ging sie anschließend nach Salzburg in eine Lehrerbildungsanstalt, wurde von den Nazis nach Jugoslawien versetzt und kehrte erst zu Kriegsende wieder in das heimatliche Innviertel zurück.
Ein Hitlermädchen war sie, beim BDM, da hat man dazu gehen müssen, da hat man keine Wahl gehabt, erklärt sie, ohne dazu aufgefordert zu werden.
Die Helene, eine Klassenkameradin, die war schon länger bei den Nazis. Als Fannis Vater dann eines Tages zu seinem wöchentlichen Besuch in die Schule kam erklärte ihm die Schulschwester, dass seine kleine Fanni jetzt auch beim BDM sei.
„Ich hab ja nicht mal gewusst was das ist, als ich so ein Dirndl war“ fügt sie an und man hört noch immer das naive Mädchen aus ihr sprechen, das von den politischen Vorgängen nicht viel mitbekommen hat, aber brav ihre Pflicht getan hat.

Die Frage nach einer Mitschuld ihrerseits verwundert sie ebenso wie das Unverständnis folgender Generationen. „Ich habe keine Schuld gehabt. Wir waren einfach bei der HJ, wir haben damals nichts Anderes gekannt. Heutzutage sagen sie ´warum seids so dumm gewesen?´ Da bist weg gewesen dann. Das sagt sich leicht ´Warum habt ihr das getan?´“                                        

Viele Erinnerungen sind schon schwach, Einzelereignisse dominieren vor chronologischen Abläufen und Jahreszahlen weiß sie so gut wie keine mehr. Aber Fanni hat den Nationalsozialismus miterlebt. Sie hat miterlebt wie Bomben gefallen sind, Menschen ihr Leben, ihre Gliedmaßen, Angehörige und Existenzen verloren haben, wo sie als Lehrerin gearbeitet hat waren Leichen aufgebart. Sie war beim BDM und niemand hat sie jemals nach den Gründen dafür gefragt. Das erzählen zu können, woran sie sich noch erinnert, war nicht nur für sie befreiend.

Mittwoch, 25. Mai 2011

I have a dream ... [oder DIE Rede ;) ]


I have a dream that one day this nation will rise up, and live out the true meaning of its creed: ‘We hold these truths to be self-evident: that all men are created equal.

Ich bin nicht Martin Luther King, wir haben nicht den 28. August 1963, sind nicht in Washington und ich spreche nicht zu euch als Demonstranten. Wir sind nur Studierende  in irgendeinem Raum irgendeiner Universität irgendeiner Stadt irgendeines Landes irgendwo auf der Welt.
Trotzdem bitte ich euch, mir zuzuhören, denn es könnte vielleicht meine einzige Gelegenheit jemals sein, um zu sagen, was mir auf der Seele brennt.
Ich will mich nicht länger hinter meinen Texten verstecken, in denen es nur um mich, mein Leben und meine Probleme geht, zu gehen scheint. Oft habe ich die Befürchtung, dass es das ist, was wir, was viele Menschen tun, sich hinter Texten oder irgendetwas anderem zu verstecken, vor der Realität.
Was mich antreibt ist die Furcht, dass es Menschen, die mir wichtig sind, irgendwann einmal egal sein könnte, was mit dem Rest der Welt passiert, dass sie sich auch ducken, verstecken und verschließen vor der Wahrheit.
Wir wurden alleine in diese Welt geboren, wir werden auch alleine sterben, aber die Zeit dazwischen sind wir alle Teil einer riesigen Gemeinschaft, der Bewohner des Planeten Erde. Insofern tragen wir nicht nur Verantwortung für unser Leben, sondern auch für die Lebenswelt, die uns umgibt, und haben uns nach bestem Wissen und Gewissen so zu verhalten, dass nach uns noch eine lebenswerte Welt zurückbleibt. Vielleicht schaffen wir es sogar, einen kleinen Teil davon ein bisschen besser zu machen.
Ich bin keine Weltverbesserin, will kein Gutmensch sein, aber ich versuche jeden Tag ein so gutes Leben zu leben, dass ich sterben könnte ohne verzweifeln zu müssen daran, was ich niemals getan habe. Zumindest den Versuch will ich unternehmen, mich der Realität zu stellen, sie auszuziehen und bloßzustellen um sie von oben bis unten schutzlos zu betrachten.
Ich will niemals bereuen müssen, nicht menschlich gewesen zu sein.
Leider gibt es im Deutschen kein Wort wie das englische „human“, denn genau das meine ich, den physischen Tatbestand unserer biologischen Bezeichnung homo sapiens, der einsichtsfähige, weise Mensch. Wer uns diesen Namen gegeben hat, hat große Hoffnungen in unsere Spezies gesetzt. Als diese Kreatur haben wir genug Hirn und Seele mit auf den Weg bekommen, um über uns selbst nachzudenken, was nur sehr wenige andere Lebewesen können, vielleicht auch niemand. Das ist es, was ich also tun kann, um nichts bereuen zu müssen, über das Leben und mich selbst, mich Mensch und die Milliarden anderen Menschen, nachzudenken. So komme ich zu der Überzeugung, dass allein unser Menschsein darüber entscheidet, wie wir uns zu unseren Mitmenschen zu verhalten haben.
Ich bin gläubig, aber ich glaube nicht daran, was in meinem Religionsbekenntnis steht. Jede Art von religiösem Fanatismus halte ich für töricht, naiv, feig und letztendlich tödlich. Religion ermöglicht es uns, unsere Sterblichkeit nicht anzunehmen. Sie gibt uns Feindbilder vor und bekräftigt uns in der Meinung, die Menschen seien so wertvoll, dass es unmöglich sei, sie sterben zu lassen, ohne dass etwas von ihnen übrig bleibt. Noch, denkt ihr, weiß ich nicht wovon ich spreche, denn mein Leben wird hoffentlich dreimal so lange dauern, wie ich im Moment alt bin. Aber wieso sollte ich dann nicht einfach gehen, ohne dass es für die Welt von Bedeutung ist? Es zählt nur, dass ich existiert habe, was ich in meiner kurzen Lebenszeit gemacht habe und ob ich meine Chance genutzt habe.
Ich will niemals bereuen müssen, meine Existenz zu wichtig genommen zu haben.
Ich hoffe, dass eine Zeit kommen wird, in der jeder begreift, dass es nichts nützt, auf die Erlösung im Jenseits zu hoffen, weil es im Hier und Jetzt Probleme zu lösen gibt. Vor allem wir, die westliche Welt, die großartigen Weißen, wie wir uns so gerne nennen lassen, haben in ihrem Überfluss die Aufgabe, ihre überflüssige Zeit, nachdem ihre anderen Bedürfnisse sich fast wie von selbst erfüllen , damit zu verbringen, Menschlichkeit zu verbreiten.
Vor allem in den Religionen, in politischen Parteien und Verbänden sind immer Stimmen zu hören, die Menschen verurteilen, die doch genauso wie sie frei und gleich und ohne deren Schuld und Zutun in diese Welt, unsere Erde geboren wurden. Menschen wie Herr Gehring, der Pabst, Bischof Schwarz oder auch die Oberhäupter und Anhänger anderer Glaubensgemeinschaften sprechen sich das Recht von Gott dazu beauftragt zu sein, eine Gruppe für weniger wert zu befinden, weil sie anders denkt, anders glaubt, anders liebt oder anders lebt. Vielleicht gar, weil sie eine andere Hautfarbe hat. Sie glauben darüber bestimmen zu können, wie der Rest der Welt zu denken und zu glauben und zu fühlen hätte. Wir bauen Grenzen, damit uns diese anderen, diese Fremden im Geist und im Glauben ja nicht zu nahe kommen und uns nicht unsere eigene „Menschlichkeit“ zu Nahe vor Augen führen.
Ich glaube daran, dass jeder das Recht mit seiner Geburt erworben hat, frei im Denken zu sein, Zu lieben, zu glauben, zu leben und zu gehen wohin und wie auch immer er möchte. Mit der Einschränkung, dass er dabei immer „human“ bleiben muss und die Gleichheit der anderen nicht verletzen darf. Sobald ich einem andern die Menschlichkeit abspreche, verlier ich auch selbst das Recht, über ihn zu urteilen.
Ich will niemals bereuen müssen, mich, meine Existenz für wertvoller als die anderer Menschen genommen zu haben.
Diese, meine Ideale heißen neben Menschlichkeit, Gleichheit und Freiheit, Toleranz und Respekt vor dem Leben, dem Lebewesen, dem Mensch. Dazu kommen neben der Liebe und dem Respekt vor den andern Menschen noch die Selbstliebe und die Selbstbestimmung. Denn nehme ich dieses Leben an, sage ja zu ihm, will versuchen die mir gegebene Chance zu nützen und das beste daraus zu machen, sage ich gleichzeitig ja zu der Verantwortung, eigene Entscheidungen zu treffen. Verneine ich es allerdings, steht es mir auch frei zu gehen, wenn ich den Moment für günstig erachte. Dabei steht die Selbstliebe und der Wert des eigenen Lebens vor der Gesellschaft, denn das eigene Leben ist die einzige Freiheit die ich wirklich habe, sofern man überhaupt fähig ist diese frei und unbeeinflusst von einem Leidensdruck zu treffen.
Ich will niemals bereuen müssen, jemand anderen als mich für den Verlauf meines Lebens verantwortlich gemacht zu haben.
„Du bist nichts als das, was du lebst“ und „Man ist was man will“, hat Jean-Paul Sarte gesagt, und ich bin davon überzeugt, dass er Recht hatte. Ars Vivendi, nannten es die Philosophen der Antike, die Lebens- und letztendlich auch Überlebenskunst, samt „Bereitschaft, Fähigkeit und Willen, die eigenen Lebensumstände wahrzunehmen, zu verarbeiten und die Lebensführung im Rahmen der Möglichkeiten persönlich und gezielt zu gestalten“.
Du wirst sterben, du, du, du und ich.
Nachher wird sich die Erde weiterdrehen, in unsere leeren Augenhöhlen werden die Wurzeln von Radieschen wachsen, Unkraut wird aus unserem Hirn wuchern, oder Vergissmeinnicht. Vielleicht auch ein Bäumchen aus unserem Nasenloch.
Ich will niemals bereuen müssen, was von mir bleibt.
I have a dream …

Donnerstag, 19. Mai 2011

Endstation Zell.



[Die Fußnoten sollen dem besseren Verständnis dienen und versuchen bestmöglich spezifische Mundartausdrücke ins Deutsche zu übersetzen.]

„Zell am Pettenfirst ist eine Gemeinde in Oberösterreich im Bezirk Vöcklabruck im Hausruckviertel mit 1170 Einwohnern.“[1]
Davon sind 700 alt, beeinträchtigt und/oder dement, 300 verbraucht, auf dem Weg in Stadium 1 und 170, die noch die Chance hätten, abzuspringen. Die Zahl der Verrückten, Wahnsinnigen, Eigenbrötler, Außenseiter und Auswärtigen, Ausländer, ist konstant hoch, circa 100-200, je nach Wetterlage.
Irgendwo dazwischen bin ich.

Die Fläche von Zö[2], wie man hier sagt, beträgt 14 km², 33,8% der Fläche sind bewaldet und 58,1 % werden landwirtschaftlich genutzt, das ergibt 8,1% für durchschnittlich 84 Menschen pro km².
Es ist so eng, dass dir der linke und der rechte Nachbar vom Essen direkt in die Seele schaut, zu schauen glaubt. Die Erkenntnisse aus dieser Seelenbeschau werden auf ihre eigene Weise schneller verbreitet, als es Internet oder Handy je schaffen würden. Mundpropaganda. Tratschweiber. Alle haben sie zerfetzte Mäuler, jeder zerreißt jeden und die Jugend ist kein Stück besser. Ich auch nicht.
Über Liesels Krankheit weiß man zwischen Bäckerei, Kirchenplatz, Wirtshaustisch und Fußballplatz besser Bescheid als sie selbst, Josef hatte was mit Resi, der Schlampe, die könnte wiederum Bertha vergiftet haben, aus Eifersucht, weil die schwanger ist, vom Seppi, der doch a woama Hund[3] sein soll.
„In der Stadt lebt man zu seiner Unterhaltung, auf dem Land zur Unterhaltung der anderen“ hat Oscar Wilde angeblich einmal gesagt.

Heute Nacht habe ich geträumt, dass da Jaga[4] meinen Hund erschossen hat, weil der öfter davon läuft. In Zell herrschen andere Gesetze. Und mit ihren Wäldern, ihren Feldern, ihrem Wild und ihrem Hof kennen die Bauern und die Jäger keinen Spaß. Was sich da unerlaubt aufhält, wird beseitigt, Gift für die Marder, das die Katze dann frisst. Oder sie verliert eine Pfote, statt der Fuchs den Kopf.
Reden tut man in Zell nicht so gern wie handeln, im Handeln sind alle schnell. Aber wenn mir einer meinen Hund erschießt, kann ich auch schnell werden, hab ich mir vorgenommen.

Das Haus, in dem die Asylwerber, die Ausländer, gewohnt haben, ist abgebrannt. „Gschiagt erna recht“[5] will niemand gesagt haben, jeder war sofort zur Stelle um zu helfen. Die Zeller, die halten zusammen, spenden jedes Jahr Blut und für mindestens fünf Vereine, darunter auch die Feuerwehr.
Das sind nämlich tolle Burschen, selbst bumdialzua[6] rücken sie noch mit Blaulicht an und retten Leben. Gesellig sind sie sowieso immer. Sogar ein eigenes Seefest veranstalten sie. Schade eigentlich, dass die von Enten verschissene Schlammpfütze jetzt auch noch überbaut wurde, für neue Feuerwehrautos und Gemeinschaftsräume, z´wegn da[7] Geselligkeit, aber ein Seefest kann man ja immer feiern.

In Zell wird nämlich gerne gefeiert und viel, jede Gemeindezeitung und auch das Kirchenblatt sind voll von Veranstaltungen – mindestens eine pro Verein und Monat - man will sich ja nichts nachsagen lassen. Wer nicht säuft, säuft ab. Geht verloren, denn dabei ist nur, wer mitmacht. Mitmachen, das heißt bei einem Verein sein. Es gibt in Zell neben der Feuerwehr noch die Kleintierzüchter, den Tanz- und Singkreis, den Sportverein, die Musikkapelle, irgendwelche kleineren Kultur- und Theatergruppen, diverse politische Verbände, die Kirche samt ihren Unterorganisationen und seit Neuestem auch die Landjugend.

Deren Aufgabe ist es, Brauchtum und Traditionen, echte Werte zu vermitteln. Das funktioniert, indem man sich bei jeder unmöglichen und absurdesten Gelegenheit eine Tracht überwirft, sich hineinzwängt. Denn Dirndlkleider müssen so eng sein, dass man nicht mehr atmen kann, aber oben allerlei zum Vorschein kommt, was den Lederhosenträgern den Atem rauben soll. „Geile Depf hod de Oide“[8] ist die Belohnung für diese Mühen. Wenn dann der Lederhosenträger das Dirndl durch seine Wortzaubereien und Liebkosungen, eher aber durch Flüssiges in wahre Rauschzustände versetzt hat, darf er am nächsten Tag sogar mit einer Trophäe beim Frühschoppen im Wirtshaus angeben. Dann zieht er stolz die Lasche der Lederhose nach unten, auf der fünf Unterschriften seiner verehrtesten Herzallerliebsten der letzten Nacht eingraviert sind - zur Erinnerung, oder doch als Gedächtnisstütze? Die Suche nach dem richtigen Weib für Haus und Hof ist lang und beschwerlich. Wichtig ist nur, man hat welche.

Das besagte Wirtshaus, von dem gibt es eigentlich zwei, die sich gegenüberliegen, aber ein völlig verschiedenes Zielpublikum ansprechen, dazu kommen noch ein paar im Umland, sollte man einmal aus irgendwelchen Gründen nicht rechtzeitig den Weg ins Zentrum finden, vorm Durst. Durst hat man in Zell nämlich immer, am liebsten freitagabends und nach der Kirche, diese Spezialform wird Frühschoppen genannt.

Da trinkt der eine oder andere schon mal einen über den Durst, sei es damit die Frauen schöner, die Probleme kleiner oder die Schmerzen dumpfer werden. Man kennt sie, die Gewissen, aber ein Alkoholproblem hat hier niemand. Sie haben sich im Griff, trinken nur gegen den Durst, beim Fortgehen, und nur, weil heute so ein beschissener Tag war. Und wieder schläft A. auf dem Tisch ein. Rund um ihn wird weitergefeiert, so mancher hat bei Glücksspielen schon seinen Hof verloren, früher natürlich. Beim Krotzen[9] und Tarockieren[10] geht es immer noch um alles. Die Ehre.

Hie und da geht man dann doch noch aus, fuatgeh,[11] wer noch kann, man will ja nicht in der Provinz versumpfen. Es fällt allen schwer, sich zwischen manchmal bis zu drei Locations, Lokalen, Festln[12], Parties zu entscheiden. Eigentlich ist es egal, wo man Kopf und Bauch vergiftet, die Jugend der umliegenden Metropolen trifft, über die Arbeit und die Ungerechtigkeit des eigenen Lebens jammert und wiederum die Herzensdame sucht. Bier gibt ´s überall.

Dann gibt es noch die, die nicht einmal die kleine Außenwelt der nächsten Bar noch interessiert, weil sie ihre Zukunft schon geplant haben. Über Optionen haben sie nie nachgedacht, die einzige Option heißt Endstation Zell. Arbeit, Mann, Hochzeit, Haus, Kind, Enkel, Friedhof. Der Zug fährt spätestens mit 20 ab, Ankunft und Abfahrt hier, bei uns, alles inklusive. Mit dem Richtigen fürs Leben muss man sich nicht mehr unters Partyvolk schmeißen, nicht mehr arbeiten gehen, nicht mehr Zeitung lesen, nicht mehr in die Ferne schweifen und denken hat man sowieso schon lange aufgegeben. Wer einmal zusteigt, die Türen schließt und abfährt, kommt garantiert an.
Die Scheidung, die gibt es in Zell noch nicht, nur unter Zuagroasten,[13] Neimodernen,[14] Zecken[15] oder dergleichen ungläubigem Gesindel. Hier ist die Ehe wirklich noch ein Bund fürs Leben. Die zweite Liebe bleibt nur Affäre, wer 50 Jahre den Schein wahrt, wird bewundert und gefeiert. Goldene Hochzeit. Vor allem die Jugend hält Traditionen wieder hoch.

Auch die Tradition des sonntäglichen Kirchengangs, die sozusagen eine Bürgerpflicht ist, selbst wenn man direkt vom letzten Bier in die letzte Bank fällt, und hier seine erste Stunde Schlaf erwischt. Man war da, ist sicher und behütet, wird geweiht und gehört zu den Guten. Die Guten erkennt man an dem Heiligenschein, der sie begleitet, beim Scheißen, beim Anschreien, beim Masturbieren, beim Hintreten, beim Missbrauchen, beim Bumsen[16] und beim Fremdbumsen. Beim Maulzerreißen sowieso.
Sein Glanz kann noch aufgewertet werden, indem man sich zu freiwilligen Tätigkeiten im Verein meldet. Man kann singen, lesen, musizieren oder Geld eintreiben, jeder was ihm liegt.
Damit die Kleinsten auch schon verstehen, wie toll der richtige Glaube ist und wie nett der Jesus zu uns war, obwohl ihm niemand je begegnet ist, wird schon im Kindergarten das erste Mal gebeichtet, aus der Bibel vorgelesen, gebastelt für den Herrgott und zu diversen Festen Blumen gestreut. Die ganz braven Mädchen dürfen bei den Goldhauben mitgehen und Ministranten wollen so bald und so lange wie möglich alle sein. Natürlich nur wegen dem Glauben, nicht wegen dem Kleingeld.
Nur die Ausländer aus dem abgebrannten Haus nicht.

Das habe ich gedacht, bevor ich nach Wien ging, konnte es kaum erwarten zu entkommen. Das Entkommen hielt ich für die leichteste und selbstverständlichste Sache der Welt, einfach alle Brücken sprengen und etwas Neues aufbauen.
Unabhängig, stark, selbstbewusst, reif und superlässig, gechillt und alternativ ist die Studentenszene in Wien, genau so wollte ich sein. Kein Landei sondern eine Frau von Welt, und dazu passte die Adresse nun einmal nicht.
Ich gebe oft noch lieber die Wiener Adresse an, aber wenn mich jemand fragt, wo ich wohne, ist meine Antwort mittlerweile klar. Eigentlich wusste ich es immer.
Die Zuagroaste, die im Alter von sechs Jahren in dieses 1200 Seelen Dorf mitten im Hausruck, mitten im Nirgendwo, kam, vom Stadtrand aufs Land, hat genau diesen Ort sehr lieb gewonnen. Die Zuagroaste bin ich wahrscheinlich noch immer, „wem gherstn du o“[17] höre ich des Öfteren, manchmal ärgere ich mich. Aber irgendwie mag ich sie alle, auch die komischen Käuze, die Menschen, bei denen man sich nicht sicher ist, von welchem Tier sie abstammen, die Nachkommen der großen Sippen, die sicher auch wegen Inzucht (nicht nur in der Vergangenheit) alle denselben Namen tragen. Auch die gescheiterten Existenzen, denn jeder gehört mindestens ein Mal im Leben zu ihnen.
Wien ist der Abstand, den ich gebraucht habe, um zu wissen, was eine Hauptstadt ist und was Heimat bedeutet. Ein Begriff, den ich nie verwenden wollte, weil er für mich so politisch ist.
Heimat kann überall sein, ein Stück davon in Wien, ein Stück habe ich überall dort gelassen, wo ich schon war, auf Reisen und bei Abenteuern, ein Stück ist in meinen Freunden und meiner Familie, eines beim Pferd im Nachbarort und eben auch ein Stück dort am Land, in Zell am Pettenfirst, meiner Hauptstadt.
Eine Hauptstadt ist nämlich ein Zentrum, sagt Wikipedia, und wenn ich in Vöcklabruck den Zug verlasse, ins Auto steige und noch 8km fahre, dann kenne ich jede Katze und jeden Baum, fällt mir jedes neue Haus auf und auch das kleinste Plakat am Straßenrand.
In Zell kümmert man sich zu viel darum, was im Leben des Nachbarn passiert, aber man kümmert sich darum, während andernorts Herr Müller von Stock 4 drei Wochen lang unentdeckt in der Wohnung liegt, in seinem Blut.
Mittlerweile gehe ich selbst freitags zum Stammtisch der Dorfjugend, weil ich nicht nur die kunterbunt vielfältigen Menschen, die mindestens so bunte Hunde sind, wie in der Stadt, auch die oberflächlichen, sinnleeren und verblüffend tiefgehenden Gespräche und die bierschwangere, Bradlfett[18] schwitzende Atmosphäre mag. Ich bin ein Teil davon.
Und wenn mir alles trotzdem zu viel wird, mich ein Ekel überkommt und die Wände immer enger zu werden scheinen, dann bin ich immer noch eine der Glücklichen, die einen Fluchtweg hat. Ich steige in den Zug nach Wien, steige dort aus, bin frei und genieße es, zu tun und zu lassen, ohne Rechenschaft abzulegen, gegenüber niemandem - auf Zeit.

Ich weiß nicht immer wohin der Zug fährt, den ich nehme, in welchen Bahnhöfen er hält und wo ich um- oder aussteige.
Zell am Pettenfirst ist bestimmt nicht meine Endstation, aber es wird immer meine Abfahrt sein.


[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Zell_am_Pettenfirst
[2] = Zell
[3] = ein Homosexueller
[4] = Jäger
[5] = Das geschieht ihnen recht!
[6] = sehr betrunken
[7] = wegen der
[8] = Die Frau hat schöne Brüste.
[9] = ein Kartenspiel
[10] = Tarock spielen
[11] = ausgehen
[12] = Zelt- und Hallenfeste, die in dieser Gegend sehr weit verbreitet sind
[13] = Zugezogene, nicht in Zell Geborene ohne Zeller Stammbaum
[14] = „Neumoderne“, das Gegenteil von Konservativ-Traditionellen
[15] = meistens Grünwähler, oft Dreadlocksträger, Alternative
[16] = miteinander schlafen, vulgär
[17] = zu welcher Familie gehörst du, wo ist dein Stammbaum?
[18] = Bratenfett, Bratfett

Was ist der Sinn?



Die kreative Energie ist für heute verbraucht. Meinen Hauptstadttext habe ich vollendet und bin sehr zufrieden, ja, er gefällt mir immer besser. Ob ihn jeder verstehen wird können, weiß ich nicht, aber er trifft. Die Menschen die er betrifft, trifft er hart und dafür möchte ich mich entschuldigen. Das musste einfach sein.

Genau deswegen sehr ich es auch nicht ein, wieso ich nicht ICH schreiben sollte. Es sind meine Texte, meine Gedanken, meine Tagebucheinträge. Nichts ist verwerflich daran, anderen einen kleinen Einblick in sein Hirn zu gewähren. Wenn das nur in Bildern möglich ist, dann soll es so sein, oder kannst du etwa ohne Vergleiche anzustellen, die Vorgänge deiner Seele, geschweige denn deines Hirns beschreiben? Ich bin keine Biologin, ich kann es nicht. Mein Mittel, meine Waffe (oh nein, ein Bild) ist die Sprache, eine andere habe ich nicht.

Ich finde es sollte sich niemand angegriffen fühlen, wenn er Dinge aus dem Leben anderer hört, sondern eher geehrt. Es gehört für mich sehr viel Mut dazu, so ehrlich über seine Herkunft oder seine derzeitige Situation, auch über seine Wut oder Enttäuschung zu schreiben wie viele es hier machen. Alles, wirklich alles, hat seine Berechtigung. Dass es dabei darum gehen soll, wer die buntesten und abstrusesten Bilder einbaut, will ich nicht akzeptieren.

Wir kommunizieren, richtig, das haben wir letzte Woche festgestellt. Willst du nicht mit anderen kommunizieren, dich alleine durch s´Leben schlagen, dann tu das eben, aber du wirst etwas verpassen.
Es bleibt dir nichts von Dingen, die du besessen hast, sie werden dich nicht vermissen, wenn du die Radieschen betrachtest, aber die Menschen, die du berührt, beeindruckt oder auch verwirrt hast, du bist ihnen in Erinnerung geblieben. Nichts sonst zählt.

Ja ich übertreibe, immer.

Ich denke ich werde Psychologie inskribieren, genau das habe ich mir in den letzten Wochen überlegt. Weil wir nur ein Leben haben, nur eine Chance, und für mich gehört es dazu, das zu tun, was man tun könnte, aber zweifelt, ob es richtig ist.

Richtig ist es, so viel wie möglich wissen über das Leben mitzunehmen, und weil ich eben keine große Naturwissenschaftlerin bin, will ich etwas über die Seele lernen. Sich mit Texten zu beschäftigen ist schön, aber im Grunde haben sie auch sehr viel mit dem Innersten der Menschen zu tun.
Ja, ich bin Romantikerin. Und Realistin. Und eine Träumerin. Und Denkerin. Aber alles was ich will, ist am Ende gehen zu können. Weil es gut war. Weil ich nichts verpasst habe. Weil ich etwas hinterlassen habe. Und weil ich glaube den Sinn gefunden zu haben.

Donnerstag, 5. Mai 2011

Kleine Rede über uns.


Es ist Donnerstag, 12.42, und ich habe noch keinen Text, den ich abgeben könnte. Ein Problem, angesichts der Tatsache, dass ich letzte Woche schon gestreikt habe, weil ich den Test und die Rede für bedeutungsvoller empfunden habe, als mir schnell einen Text, eine Glosse (was auch immer das ist habe ich noch immer nicht herausgefunden) aus den Fingern zu saugen.
Saugen ist eigentlich das falsche Wort, eine inkorrekte Metapher, denn ziehen tut gar nichts mehr, seit es Computer gibt.
Einen Text schlägt, drischt, tippt, hämmert, klopft man sich aus den Fingern, in die Tasten, mit jedem Anschlag stärker und manchmal völlig taktlos und unregelmäßig, weil die Gedanken langsamer sind als der Takt(an)schlag sein sollte, damit was entsteht auf dem leuchtenden Viereck.

Aber meine einschlagenden Gedanken schweifen schon wieder ab. Eigentlich wollte ich über den Donnerstag Abend vor den Ferien schreiben, als ich mich mit zitternden Knien, die mich kaum tragen wollten, trockenen Augen, dass die Linsen sich so fest auf den Augapfel klebten, bis der Text und die ganze Klasse gemeinsam schwimmen gingen, und letztendlich der eh schon bekannten Versagensangst an dieses seltsame Holzklappbrett stellte. Als ich nach 20 Minuten, 3 Litern Angstschweiß und 2 Kilometern Weg endlich ankam war ich sowieso schon viel zu spät um noch länger darüber nachzudenken was ich da eingentlich tat. Also fing ich einfach an. Den Moment, in irgendetwas das entschieden hatte, habe ich dabei verpasst.

Ich will noch ein wenig von dieser Versagensangst reden.
Denn heute habe ich endlich einmal meine Faulheit überwunden und mich ein wenig in den Textberg in meinem digitalen Briefkasten eingegraben. Man stelle sich das in etwa so vor, wie bei Dagobert und seinen Münzen, die sehen auch alle gleich aus, er kann sie nicht mehr auseinanderhalten und doch liebt er sie alle. Also habe ich versucht sie endlich alle zu würdigen, zu sortieren, zu sammeln und zu ordnen, was nicht so einfach ist, wenn jede E-Mail mit dem vielsagenden Titel „text“ bezeichnet ist.
Dabei bin ich auf so manche Schätze gestoßen. Das Antimärchen zum Beispiel, ich werde es lieben, nein, ich liebe es schon und werde ihm treu bleiben. Es erinnert mich an einen Text von mir, der eigentlich noch kein Text ist, sondern nur ein Gedanke auf einem Schmierzettel und viel mehr noch in meinem Kopf.
Er handelt von zwei Menschen, die sich voller Gier aufeinander am Ende auffressen.
Mir gefällt das. So muss eine Geschichte enden. Nicht so scheißverdammt romantisch verklärend, wie in den Märchen und Hollywoodfilmen, die uns als Kinder schon völlig falsche Vorstellungen eingeimpft haben (im wahrsten Sinne des Wortes, so wartete der Piekser meines Arztvaters gegen hinterhältige Zeckenangriffe, die bei Landkindern recht regelmäßig und üppig ausfallen, immer während die Schwanenprinzessin nebenbei über den Flimmerkasten turtelte, damit ich nicht sofort die Flucht ergriff und meinem Papa die Szene und das hinterher jagen durchs Stiegenhaus erspart wurde).
Jedenfalls habe ich mit meiner Geschichte noch nicht begonnen, aber seit ich „Ereignisse“ von dem Mann, bei dem man Vor- und Nachnamen nur schwer auseinanderhalten kann - falls er einem nicht schon in der Schule begegnet ist - gelesen, verschlungen habe, weiß ich, wie Kurzgeschichten, falls man diese Form so bezeichnet, ausschauen müssen. Sollte ich einmal etwas ähnlich grässlich morbides skurriles sarkastisch grauslig groteskes produzieren kann ich getrost sterben gehen.
So ein Blödsinn.

Aber zurück zu der Rede, den Texten. Eigentlich wollte ich ja noch etwas zur Versagensangst schreiben, über die Frau Liedauer mir ebenfalls vor etwa einer Stunde beeindruckend und doch beklemmend nahegetreten ist, im besten Sinne. Sie hat einen Punkt berührt, den wir alle kennen. Das Verlangen nach Anerkennung. Und genau wegen diesem konnte ich nicht kneifen. Ich wollte dieser Donnerstagabend-Gruppe, von der ich so viel halte und die ich fast alle für sehr viel talentierter halte als mich, zeigen, dass ich auch etwas kann. (Natürlich wollte ich es in erster Linie meinem alter ego, das gerade Bestätigung sucht, zeigen, aber das kann sich jeder selber denken.)
Dass ich diese Rede nicht so schlecht spielen kann und nicht nur die Ruhige, Schüchterne bin, die glaubt sie müsse gute Texte produzieren. In Wahrheit halte ich mich nämlich für ziemlich laut, aber bis ich laut werden kann, müssen die Luftbedingungen stimmen, die Umweltweinflüsse passen und letztlich auch die Lichtverhältnisse. Am wichtigsten aber ist, dass ich das Gefühl vermittelt bekomme, dass mich die anderen 30 Blicke nicht auffressen werden und ich ein Tiger im Käfig bin, den man mit Respekt betrachtet, und kein Äffchen mit Trommel in der Hand.

So habe ich also meine Rede hinausgebrüllt, mich aufgerichtet und gezeigt dass ich auch da bin.

Und umso besser gefiel es mir dann noch, dass dieser Übungsleiter anscheinend wirklich einen gruppendynamischen Plan verfolgt und diese Texte doch eigentlich nur Vorwand sind für die viel wichtigeren Dinge im Leben.
Für das Leben.

Donnerstag, 7. April 2011

..ein ganz normaler Uni-Tag:

Wie wild im Hof im Kreis jagende Horden von (Kindergarten-?)Kindern, die Schnitzel jagen. Oder Rätsel. Oder so ähnlich. Ein Rollrasen rollender Gärtner, der feuchtfröhliche Anschläge auf Studenten verübt, die ihrerseits versuchen rätselhafte Dinge einem konfusen Text über die extrem spannende Geschichte der Biografie zu entlocken. Und abends ein Schweiß und Blut in Texte rührender Professor, dessen theatralische Ausführungen über den Tod der Rhetorik von den kunstvollen, alkoholschwangeren Klängen der Steiermarker übertönt werden, was die Dramatik bis zum leicht psychopathischen Lachen der Versammelten steigert. Nicht zu vergessen die umsonst vorbereitete Handke Rede an den Aufsichtsrat, die Schweiß und Spiegel und Angst gekostet hatte, um jetzt wieder in der Versenkung zu verschwinden. Zuletzt ein Text, der erstmals nicht mit dem allerhöchsten Preis des markerunterlegten Verweises um die Bitte nach dem Zumailen versehen war, sondern nur den Stempel "Version 1" trägt. Irgendwo in der Mitte stand eine Facebook-Prophezeiung: Sie werden heute enttäuscht werden. Self-fullfilling prophecy, nennt die Psychologie das. Ich nenn es einen extrem seltsamen Tag, den nur noch eine ordentliche Portion Konzepterstellung normalisieren kann. Und die schreienden, sorglosen, komplett normalen Studenten von nebenan. Na dann gute Nacht.