Donnerstag, 5. Juli 2012

Die Faszination des Bösen - Der ungelöste Mordfall Martina Posch als Mysterium


Vor 26 Jahren verschwindet in Vöcklabruck, Oberösterreich, die 17-jährige Martina Posch spurlos, 10 Tage später wird ihre Leiche im Mondsee gefunden, sie weist Spuren eines Sexualverbrechens auf. Daraufhin beginnt eine der größten Ermittlungsaktionen des Landes, mehr als 2000 Personen werden befragt, aber der Täter wird nie gefunden. Trotzdem ist der Fall 26 Jahre später noch immer im Gespräch, die Bevölkerung stellt noch immer Mutmaßungen an, Kindern und Enkelkindern wird die Geschichte weitererzählt, Bücher erscheinen, neue Theorien tauchen auf und Zeitungen berichten über angebliche Versäumnisse in der Vergangenheit genauso wie über Parallelen zu heutigen Fällen. In den Köpfen der Menschen lebt der ungelöste Mordfall Martina Posch als Mysterium weiter.

Die Vögel zwitschern, es ist ein warmer Frühsommertag und nur das vereinzelte Geräusch schlurfender Schritte auf dem Kiesboden stört die Stille. Ein friedlicher Ort. Immergrüner Efeu und ein Buchsbäumchen wuchern schon jahrelang ungestört vor sich hin, dazwischen hat irgendjemand in letzter Zeit ein paar Blümchen gepflanzt, unzerstörbare. Die rote Kerze in der traditionellen schmiedeeisernen Laterne ist schon lange nicht mehr angezündet worden. Hässliche rosarote, von Wind und Wetter stark mitgenommene Kunstblumen zieren eine ebenso massive Vase. Auf dem Grabstein stehen die Namen eines Ehepaares, das nach einigen gemeinsamen Jahren aus unbekannten Gründen hintereinander verstorben ist. Darunter ein anderer Name, der Name eines Mädchens, ihrer Enkelin, das nur 17 Jahre alt wurde: Martina Posch starb 1986 infolge eines Gewaltverbrechens, der Täter ist bis heute unbekannt.

Am 12. November 1986 verlässt Martina in Vöcklabruck/OÖ das Haus ihrer Mutter, um wie gewohnt mit dem Bus zur Arbeit zu fahren, sie ist Lehrling in einem Betrieb im benachbarten Attnang-Puchheim. Dort kommt sie nie an. Nachdem sie um 6.40 aus dem Haus gegangen war, hat sie nie wieder jemand lebend gesehen - außer ihrem Mörder. Der Freund Herbert B. und die Mutter des Mädchens starten in den Abendstunden, als klar ist, dass Martina nicht in der Arbeit erschienen war, eine großangelegte Suchaktion, die Gendarmerie wird eingeschaltet. 10 Tage nach ihrem Verschwinden finden Taucher im Mondsee die halbnackte Leiche des Mädchens, in Planen gehüllt. Die Tote fällt ihnen geradezu in die Arme, war sie doch an der seichtesten Stelle des Sees versenkt worden. Alles deutet darauf hin, dass sie einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen ist. Gesicherte Spuren weisen außerdem auf einen kühlen Zwischenlagerungsort hin, Reste von Saatkörnern, Getreide, stützen die Theorie, dass es sich um eine Scheune handeln könnte. Außerdem ergibt die Untersuchung der Leiche, dass sie spätestens zwei Stunden nach Verlassen des Elternhauses durch Erwürgen getötet worden sei.

Von diesen Fakten kann man auch heute noch mit Sicherheit ausgehen, aber was in der Zeit vom 12. November, 6.40, bis zum 22. November passiert ist, darüber gibt es wilde Theorien, viele Mutmaßungen, aber schließlich eine große Ahnungslosigkeit, verbunden mit der Hoffnungslosigkeit, dass der Täter in Ruhe alt werden wird, stirbt, ohne je für seine Tat belangt worden zu sein.

In regelmäßigen Abständen berichten Boulevardblätter wie die Kronen Zeitung wieder über den Fall, decken angebliche Versäumnisse auf und schüren den Glauben an eine Lösung des Falls. Es wird angeprangert, dass die zwei Planen, in die das Opfer gewickelt war, verschwunden sind, ebenso kehrte ihr Pullover nie aus dem Studio von Aktenzeichen XY zurück. Angeblich erhielt das Landesgericht Wels nur einen Teil des Aktenordners, den die Gendarmerie im Fall Martina Posch angelegt hatte. 2008, als der Amstettener Inzestfall rund um Josef Fritzl bekannt wurde, geriet der Fall Martina Posch wieder ins Interesse der Medien und der Bevölkerung, weil die Fritzels zum Zeitpunkt der Tat am Mondsee eine Pension betrieben hatten. Der Verdacht wurde geprüft, aber genau wie den zahlreichen Verdächtigen vorher, konnte man Josef Fritzl keine Verbindung zu dem Mädchen nachweisen.

Die tatsächlichen Ermittlungsarbeiten von Manfred Schmidbauer, leitender Kriminalist im Fall Martina Posch und jetzt Landesgendarmeriekommandant a. D., begannen mit 10 Tagen Verspätung, 10 Tage, die wie ein Geschenk für den Mörder waren. Vorher konzentrierten sich die
Ermittlungen aufgrund falscher Hinweise darauf, dass Martina entführt worden, oder einfach von zu Hause ausgerissen ist, was man in ihrem Alter nicht für unwahrscheinlich hielt.

Über 2000 Personen wurden befragt, Anrainer, Freunde, Bekannte, Angehörige und auch Pendler, die die Bushaltestelle passiert hatten, wurden als Zeugen vernommen. Noch nie war in Oberösterreich großflächiger ermittelt worden. Schon bald begann man aber den Kreis der Verdächtigen sehr eng zu ziehen, der Täter wurde im Umfeld des Opfers angenommen, jedoch ohne Ergebnis. Norbert Blaichinger, Journalist und Autor des Buches „Mysteriöse Kriminalfälle aus Österreich“ mutmaßt, dass diese frühe Fokussierung das Glück des Mörders gewesen sein könnte. Er befasst sich in diesem Buch eingehend mit diesem Fall. Aus Interesse, weil der Fall so Nahe bei ihm passiert sei und weil es dabei um ein junges Mädchen geht, begann er sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und beschäftigt sich noch immer damit. Seiner Theorie zufolge hatte sich Martina mit einem Unbekannten verabredet, der sie eventuell schon vorher öfters zur Arbeit gebracht hatte, was fehlende Busabrechnungen belegen würden. Der Unbekannte wurde dann zudringlich, Martina wehrte sich und wurde im Affekt erwürgt. „Wenn die Polizei aber der Theorie, die ich ihnen jetzt geliefert habe, nicht nachgeht, dann ist es für mich zu Ende. Dann sehe ich keine Chance mehr, noch weiter zu agieren.“ Eigentlich hält Norbert Blaichinger den Fall noch für lösbar.

Auch Manfred Schmidbauer, der damals, wie schon erwähnt, leitender Ermittler war und als Oberösterreichs erfolgreichster Kriminalist bezeichnet wird, lässt der Fall noch 26 Jahre danach nicht los. 179 Fälle konnte er in seiner erfolgreichen Karriere aufklären aber einer, der Fall Martina Posch, blieb ungelöst und beschäftigt ihn noch jetzt, in seiner Pension. Manfred Schmidbauer hat sich auch an Norbert Blaichingers Buch beteiligt und ist mit ihm die von verschiedenen Seiten aufgestellten Theorien durchgegangen. „Einige sind wenig wahrscheinlich, aber sie müssen gestellt werden, um objektiv und neutral zu bleiben.“ Außerdem erhofft sich der Kriminalist a.D., dass der Täter durch solche Bücher und auch dadurch, dass der Fall nicht in Vergessenheit gerät, verunsichert wird und einen Fehler begeht.

Psychologen gehen davon aus, dass das größte Problem an einem ungelösten Mordfall die fehlende Klarheit ist. Wenn ich mich nicht mit den Tatsachen auseinandersetzen kann, dann beginnt das Gedankenkreisen und die Fantasien darüber, was gewesen sein könnte, sind noch grausamer als die Realität. Andererseits sind Emotionen wie Zorn, Wut und Aggression nicht zielgerichtet, wenn der Täter, auf den ich sie richten kann, fehlt. Somit richtet sich die Wut ersatzweise gegen die Welt an sich und es kommt zu einem Welthass, oder gegen einen selbst, was über heftige Schuldgefühle bis zum Selbstmord führen kann. Auf der Täterseite spielt der in der Psychologie essentielle Begriff der Verdrängung die entscheidende Rolle. Um halbwegs integriert mit der Schuld Leben zu können, muss der Täter die Tat verdrängen, was bis zur Abspaltung führen kann, sodass er sich nicht mehr als Täter sieht. Psychoanalytiker sehen die große Ungerechtigkeit darin, dass Mörder sogar sehr viel besser mit ihren Taten leben können, als alle anderen Beteiligten.

So wie Verdrängung immer etwas mit Angst zu tun hat, ein Schutzmechanismus gegen die Angst ist, so ist sie auch ein Grund für das Interesse der Bevölkerung an einem ungelösten Mordfall. Ein solches Ereignis stellt eine Bedrohung dar, gerade wenn es räumlich sehr nahe passiert ist, und ist zugleich mit einem ähnlich großen Maß an Emotion verbunden wie etwa eine Fürstenhochzeit. Schmerz und Freude als Extreme sind eine willkommene Abwechslung im großteils monotonen Alltag des Menschen, lautet der Befund der Psychologie.

Auch die Kriminalistik legt einen ungelösten Mordfall nicht einfach ab und erklärt ihn für beendet. Er wird zu einer sogenannten Cold Case Ermittlung, zu Deutsch einem Verfahren der Schwerkriminalität, wie man es aus amerikanischen Filmen und Serien kennt. Obwohl keine verwertbaren Spuren mehr vorhanden sind, wird der Akt Martina Posch in regelmäßigen Abständen von Spezialisten wie Kriminalisten, Analysten und Psychologen auf neue Erkenntnisse hin bearbeitet.

„Auch wenn ich weiß, dass es sehr unwahrscheinlich ist, den Täter noch zu überführen, gebe ich die Hoffnung nicht auf“ betont Manfred Schmidbauer. Auf die Frage, was ihn am Fall Martina Posch am meisten beschäftige, antwortet er: „Der Umstand, dass ich mir sicher bin, mit dem Täter bereits gesprochen zu haben.“


Mittwoch, 25. Januar 2012

"Wir haben ja nichts Anderes gekannt" - Die Geschichte einer braunen BDM-Jacke und ihrer Trägerin

Sie war beim BDM. Jeder in der Familie weiß es, aber niemand kann es verstehen. Alle kennen  die braune, hübsch gearbeitete und für die ärmlichen Verhältnisse nach dem Krieg sehr exklusive BDM-Jacke. Irgendjemand ließ sie umnähen und dann hat die geliebte Großnichte sie getragen, für die sie, selbst kinderlos, wie eine Mutter war.

Sie, das ist die 1924 geborene und heute 87-jährige Franziska S., die seit ihrer Mädchenzeit von allen „Fanni“ genannt wird. In der Familie ist sie einfach  nur die „Godi“ (Taufpatin der Großmutter, Schwester der Urgroßmutter), die gute Seele, die immer da ist, wenn man sie braucht, sich um die Kinder  gekümmert hat, als wären es ihre Enkel und trotz ihres eigenen stolzen Alters eine symbiotische Lebensgemeinschaft mit einem 100-jährigen Mann führt. Ob man es Liebe oder Freundschaft nennen will, ist völlig egal, denn sie brauchen einander und es schützt sie beide vor der Einsamkeit des Alterns, die unweigerlich von einem Besitz zu ergreifen droht, wenn man der Reihe nach alle Freunde, Verwandten und Schulkollegen zum Grab begleitet.

Von der Zeit, in der Fanni die BDM-Jacke getragen hat, will aber niemand der Verwandten mit ihr sprechen. Jeder hat insgeheim Angst, dass er Seiten an ihrer „Godi“ entdeckt, die er nie finden wollte. Dass die Nazi-Ideologie vielleicht auch ihre Ideologie war. Dass sie freiwillig dazu gegangen ist  und sich dadurch mitschuldig gemacht hat. Dass esso etwas wie Schuld in der eigenen Familie gibt. Und außerdem schweigt man über die Nazizeit lieber. Die Generation, die sie miterlebt hat, tat es, tut es noch immer und wir beteuern zwar ständig, eine aufgeklärte Generation zu sein, aber tun es auch - schweigen.

Fanni scheint kein Problem damit zu haben, über diese tabuisierte Zeit zu reden. Sie eilt geschäftig in ihrer Wohnung in einem 800-Seelen Kaff im Innviertel umher, auf der Suche nach Fotos ihrer Jugend.
Der Pfarrerwald sei plötzlich feuerrot gewesen in dieser Nacht, beginnt sie zu erzählen. Die Leute hätten damals gemeint, dass dieses geheimnisvolle, nachterhellende Leuchten ein Nordlicht sei, das Schlechtes bedeute. Und daraufhin sei der zweite Weltkrieg ausgebrochen. Fanni war damals, 1938, 14 Jahre alt und besuchte in Vöcklabruck im Mutterhaus die Hauptschule.
Weil sie Lehrerin werden wollte ging sie anschließend nach Salzburg in eine Lehrerbildungsanstalt, wurde von den Nazis nach Jugoslawien versetzt und kehrte erst zu Kriegsende wieder in das heimatliche Innviertel zurück.
Ein Hitlermädchen war sie, beim BDM, da hat man dazu gehen müssen, da hat man keine Wahl gehabt, erklärt sie, ohne dazu aufgefordert zu werden.
Die Helene, eine Klassenkameradin, die war schon länger bei den Nazis. Als Fannis Vater dann eines Tages zu seinem wöchentlichen Besuch in die Schule kam erklärte ihm die Schulschwester, dass seine kleine Fanni jetzt auch beim BDM sei.
„Ich hab ja nicht mal gewusst was das ist, als ich so ein Dirndl war“ fügt sie an und man hört noch immer das naive Mädchen aus ihr sprechen, das von den politischen Vorgängen nicht viel mitbekommen hat, aber brav ihre Pflicht getan hat.

Die Frage nach einer Mitschuld ihrerseits verwundert sie ebenso wie das Unverständnis folgender Generationen. „Ich habe keine Schuld gehabt. Wir waren einfach bei der HJ, wir haben damals nichts Anderes gekannt. Heutzutage sagen sie ´warum seids so dumm gewesen?´ Da bist weg gewesen dann. Das sagt sich leicht ´Warum habt ihr das getan?´“                                        

Viele Erinnerungen sind schon schwach, Einzelereignisse dominieren vor chronologischen Abläufen und Jahreszahlen weiß sie so gut wie keine mehr. Aber Fanni hat den Nationalsozialismus miterlebt. Sie hat miterlebt wie Bomben gefallen sind, Menschen ihr Leben, ihre Gliedmaßen, Angehörige und Existenzen verloren haben, wo sie als Lehrerin gearbeitet hat waren Leichen aufgebart. Sie war beim BDM und niemand hat sie jemals nach den Gründen dafür gefragt. Das erzählen zu können, woran sie sich noch erinnert, war nicht nur für sie befreiend.